Parallelgesellschaften im Kulturbetrieb?

07.03.2016

Mann spricht in Mikrofon
Mark Terkessidis | © UN

Mark Terkessidis, Autor, Journalist und Migrationskulturforscher, im Gespräch mit Silvia Fehrmann, Leiterin des Bereichs Kommunikation und Kulturelle Bildung am Haus der Kulturen der Welt

Interview: Silvia Fehrmann und Ebru Taşdemir

Silvia Fehrmann: Wir stehen derzeit in Deutschland vor der Herausforderung, Vielfalt zu gestalten. Welche Fehler der Vergangenheit dürfen nicht wiederholt werden?

Mark Terkessidis: Kürzlich hat die Tate Gallery, eines der Flaggschiffe britischer Kultur, in Großbritannien eine Untersuchung über ihre eigenen Programme zum Thema „Diversity“ angestellt. Zuvor hatte die Blair-Regierung in den 1990er Jahren die großen Kulturinstitutionen zu „social inclusion“ aufgefordert. Interessanterweise stellte die Tate rückblickend fest, wie sehr die Programme falsch konzipiert waren: Es handelte sich um Sondermaßnahmen mit ethnischem Targeting im Bereich Bildung. Diese Programme wurden von den sogenannten Minderheitenangehörigen nicht nur nicht genutzt, sondern aktiv zurückgewiesen. Solche Fehler sollte man nicht wiederholen.

Ist dies mit der Situation in Deutschland vergleichbar?

In Deutschland haben wir ein ganz ähnliches Bild. Mit der Einführung des „Nationalen Integrationsplans“ wurden erstmalig Programme zum Thema Kulturelle Bildung gestartet. Kulturelle Bildung ist - gemäß dem Papier der Kultusministerkonferenz - so definiert, dass man Jugendliche und junge Erwachsene an Kultur „heranführen“ möchte. Im Umkehrschluss heißt das: Offenbar besitzen sie keine. Das ist aber regelrechter Blödsinn. Ebenso wird oft in Bezug auf Personen mit Migrationshintergrund gedacht. Und so soll kulturelle Bildung häufig dazu dienen, die „richtigen“ Voraussetzungen zu schaffen, um „unsere“ Angebote in den Kulturinstitutionen zu nutzen. Dabei wäre es notwendig, angesichts der Vielheit der Gesellschaft diese Angebote auf den Prüfstand zu stellen.

Nur fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung nehmen die Angebote der bestehenden Kulturinstitutionen wahr und nutzen sie. Was wäre nötig, um Zugangshürden abzubauen?

In den 1960er und 1970er Jahren gab es einen Angriff auf den etablierten Kulturbetrieb – Stichwort „Kultur für alle“ – , der aber keine Reformen einbrachte. Es gab additive Veränderungen im Hinblick auf Förderungen für die „freie Szene“ und „Soziokultur“, aber der Kern der Kulturinstitutionen - also da wo definiert wird, was Kunst sein soll - ist gleich und vor allen Dingen gleich organisiert geblieben. Wir finden dort eine häufig ganz traditionell-hierarchische Arbeitskultur vor, während sich gleichzeitig alle für äußerst kritisch und fortschrittlich halten. Zudem wird dieser Betrieb von einer bestimmten Gruppe in der Gesellschaft beherrscht und wahrgenommen.

Ein Stadt-Theater müsste beispielsweise genau überprüfen, was die Urbanität seiner Stadt ausmacht, um anschließend in seinem Programm auf diese Urbanität einzugehen. Das passiert in wenigen kollaborativen Projekten irgendwo zwischen „Heart of the City - Fragen an das Stadttheater der Zukunft“ (Veranstaltung des Theaters Freiburg im Jahr 2010) oder „New Hamburg“ (Bewohner*innen des Stadtteils Veddel gründeten eine Begegnungsstätte für die unterschiedlichsten Akteure des Stadtteils und der ganzen Stadt). Allerdings wirken solche Öffnungsprojekte selten auf den Betrieb zurück.

Gibt es denn positive Beispiele?

Das Beispiel des Königlich Flämischen Theaters in Brüssel ist schlagend. Die künstlerische Leitung beschloss, sie brauche keine Intendanz mehr. Stattdessen wurde die Zusammensetzung der Bevölkerung Brüssels analysiert und ein Rat von Personen mit verschiedenen Hintergründen eingesetzt, die nicht einmal alle aus dem Bereich Theater stammten. Polemisch gesprochen ist es in Deutschland so: Die Kulturinstitutionen sind entweder Behörden (Museen), oder Diktaturen (Theater). Wie können aber Institutionen, die doch fundamental für unsere demokratische Gesellschaft stehen sollen, eine so undemokratische Organisation haben?

Vor allem braucht es mehr kollaborative Formen. Manche Museen haben sich zwar neu und engagierend ausgerichtet, wie etwa das Historische Museum Frankfurt, dennoch müssen die grundsätzlichen Fragen noch einmal gestellt werden: Wofür sind diese Einrichtungen da? Was will die demokratische Gesellschaft von diesen Einrichtungen? Wer definiert die Kriterien dafür, was künstlerische Qualität ist? Das traditionelle Kunstobjekt wird immer gegenüber dem Prozesshaften, Unfertigen, Risikofreudigen bevorzugt, aber eine vielheitliche Gesellschaft ist auch eine unbekannte Gesellschaft, die das Prozesshafte dringend braucht.

Greift Kulturelle Bildung da, wo sie wirken soll?

Die Programme der Kulturellen Bildung sind sehr unterschiedlich, aber häufig geht es darum, den armen Kids zu helfen, die irgendwo „draußen“ sind. Kürzlich habe ich die Richtlinie für Stadtteilkultur in Hamburg gelesen – sie heißt dort Soziokultur. Darin steht, dass es darum ginge, „Menschen mit verschiedenen kulturellen und sozialen Hintergründen sowie Menschen mit Behinderung die aktive Teilhabe am kulturellen Reichtum der Stadt zu ermöglichen“. Das besagt soviel wie: Es gibt auch Leute, die keine „verschiedenen Herkünfte“ haben, und die besitzen absurderweise den kulturellen Reichtum der Stadt.

De facto nutzen nur fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung die Angebote etablierter Kulturinstitutionen. Bei diesem Personenkreis handelt es sich also um eine Minderheit, quasi eine Parallelgesellschaft. Ich würde umgekehrt Angebote „Kultureller Bildung“ für diese Gruppe fordern, um sie behutsam an die Realität der Gesellschaft heranzuführen. Ansonsten würde ich die Förderstrukturen so umdefinieren, dass „künstlerische und kollaborative Prozesse“ gefördert werden. So könnte man den „kulturellen Reichtum“ der Stadt gerechter und besser verteilen.

Sind Sonderprogramme denn notwendigerweise immer an ein Sonderpublikum gerichtet?

Ich glaube, dass man Vielheit und Multiperspektivität in allen Kulturangeboten mitdenken muss. In Frankfurt, Stuttgart und Nürnberg haben siebzig Prozent der unter Sechsjährigen Migrationshintergrund, und diese Zusammensetzung muss doch berücksichtigt werden. Jede gute US-amerikanische Serie kann das und genau so kann man bei allen Stücken, Ausstellungen, Konzerten etc. auch versuchen, auf intelligente Weise unterschiedliche Zugänge zu organisieren.

Es geht um Analyse, Recherche, Zusammenarbeit, Einbeziehung. Und nicht darum, unter sich zu bleiben, weil man alles besser weiß, in der Abgeschiedenheit des „Hauses“ plant, anschließend das Ergebnis hinsetzt und die „Vermittlung“ losschickt, die das Programm denen verkauft, die nicht dazugehören. Neuerdings gibt es auch noch die Denkweise, dass man einen türkischen Mitarbeiter braucht, der dann „die Türken“ in die Einrichtung holt. In Deutschland gibt es gar kein Konzept dafür, wie das Publikum beschaffen ist, welches Verhältnis man zu Publikum hat und wie es verändert werden kann. Ich finde das befremdlich.

Was finden Sie an diesen Sonderprogrammen denn problematisch?

Um ein Beispiel zu nennen: 2012 befand sich im Kinderchor der Komischen Oper Berlin kein einziges Kind türkischer Herkunft. In einer Stadt wie Berlin ist das fast ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn ich keinen aktiven Prozess unterstelle, um diese Kinder fernzuhalten, kann man daran erkennen, wie geschlossen die Netzwerke einer solchen Einrichtung sind. Mit dem Programm „Türkisch. Oper kann das“ und mit Mustafa Akça, dem ersten Mitarbeiter türkischer Herkunft in der Komischen Oper, änderte sich die Situation.

Er startete einen Aufruf im türkischsprachigen Sender „Radyo Metropol“; daraufhin meldeten sich 200 Familien, die sich um eine Mitgliedschaft ihrer Kinder im Kinderchor der Komischen Oper bewarben. So einfach kann das sein. Allerdings stellt sich edie Frage, inwieweit dieses „zielgruppenspezifische“ Programm auf den Betrieb der Oper zurückwirkt. Wird sich dieses Programm auf die generelle Strategie in Bezug auf das Publikum auswirken, wird es die Organisationskultur verändern? Wird die Oper eine „lernende Institution“, oder bleibt das Programm ein „Token“? In den meisten Fällen belegt das Sonderprogramm, dass man „etwas macht“, und damit hat sich die Sache erledigt.

Manchmal entsteht der Eindruck, dass Programme für bildungsbenachteiligte Jugendliche Bildungsbenachteiligung fortschreiben.

Es ist doch paradox: Institutionen, die eine kleine Gruppe von fünf Prozent extrem bildungsnahem Publikum bedienen, kümmern sich in ihren Sonderprogrammen oftmals vor allem um „bildungsferne“ Jugendliche. Warum muss es immer um die „Bildungsfernen“ gehen? Was ist mit all denen „dazwischen“? Es gibt eine neue Untersuchung vom Rat für kulturelle Bildung, wie schlecht das „Bildungs- und Teilhabepaket“ in dieser Hinsicht funktioniert hat.

Das Jugendtheater Moabit hat im vergangenen Jahr ein Festival mit dem Titel „Wer ist hier bildungsfern?“ kuratiert – eine schöne polemische Umkehrung.

Wenn ich mit Kulturinstitutionen spreche, fordere ich, dass sie genau hingucken, was Jugendliche alles können. Sie sind polyglott, technikaffin, und sie wissen etwas von ästhetischer Arbeit. Schaue ich mir morgens die Berufsschüler an, die bei mir vor der Haustür vorbeikommen, dann staune ich immer, was sie schon an ästhetischer Arbeit in punkto Mode, Frisur, Kosmetik verrichtet haben, bevor sie das Haus verlassen. Das ist enorm! Im Sinne von Gernot Böhme leisten sie tatsächlich ästhetische Arbeit, sie erzeugen „Atmosphären“. Zum einen wäre das ein Ansatzpunkt für das Kunstverständnis dieser Personen.

Zum anderen könnte die Parallelgesellschaft im Kulturbetrieb hier etwas über den „kosmopolitanen Baldachin“ dieser Gesellschaft lernen, über das alltägliche zivile Zusammenleben in Vielheit – um einen Begriff von Elijah Anderson zu verwenden. Diese jungen Leute können uns auch etwas beibringen. Anstatt ihnen „kulturelle Bildung“ angedeihen zu lassen, könnte man einen Austausch organisieren, der für uns alle attraktiv wäre. Für die Jugendlichen insofern, dass sie ernstgenommen würden und ihr Beitrag geschätzt würde. Und das Personal im Kulturbetrieb könnte lernen, die eigene Besserwisserei zu verlernen und wieder Erfahrungen zu machen.

Was könnte sich eine demokratische Gesellschaft von den Kultureinrichtungen wünschen?

Erstens: Wenn der Staat im 19. Jahrhundert die Kulturinstitutionen gefördert hat, um Homogenität herzustellen und ein gesellschaftliches Band um die Nation zu schlingen, dann könnte heute in einer Gesellschaft der Vielheit deren Funktion darin bestehen, Labore für das Aushandeln des Verschiedenen zu werden.

Zweitens denke ich, dass Kunstinstitutionen so etwas wie alternative Öffentlichkeiten herstellen können. Gerade in dem Moment, in dem die heutige Medienlandschaft extrem panikartig reagiert, skandalisiert und polarisiert, könnten Kulturinstitutionen einen Raum bieten, wo eine gesellschaftliche Debatte jenseits dieser Neuigkeitszwänge stattfindet.

Und drittens: Kultureinrichtungen sind Bildungsinstitutionen, dort könnten die kollaborativen künstlerischen Prozesse ablaufen – am besten in Zusammenarbeit mit anderen Bildungseinrichtungen.

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