Virtuelle Realität - Bildungsraum und Möglichkeiten

07.07.2019

Jugendlicher mit virtueller Brille
Schools of Tomorrow | Foto: Laura Fiorio

Die Versprechungen virtueller Realität haben in vielen Bereichen Konjunktur. Wie groß ist aber die Rolle der neuen Technologien mit Blick auf die kulturelle Bildung? Mit dem Projekt „Die virtuelle Schule“ erprobten die medialen pfade gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern das Lernen der Zukunft in einer partizipativen virtuellen Lernumgebung.

Von: Robert Behrendt

Mobile Endgeräte, allen voran das Smartphone, gehören zur Grundausstattung fast jedes Haushalts in Deutschland. Bei den den 12- bis 19-Jährigen liegt die Ausstattungsrate laut JIM-Studie 2018 bei 97 Prozent, womit praktisch jeder Jugendliche ein Gerät besitzt. Die weite Verbreitung eines nahezu universellen Gerätes zur Nutzung digitaler Medien bietet beachtliches Potenzial für Bildungsprozesse und bietet jungen Menschen aller Milieus Möglichkeiten zu gesellschaftlicher Teilhabe.

Smartphones sind zum Tool der Wahl für die eigene Freizeitgestaltung geworden, zu einem Werkzeug für sehr unterschiedliche Lebensbereiche, ob Kommunikation, Information, Unterhaltung oder Spiele. Die beiden letztgenannten Bereiche nehmen in der Internetnutzung Jugendlicher mittlerweile 55 Prozent (JIM-Studie 2018, S.33) ein. Das zeigt, welche Bedeutung diese Aspekte für junge Menschen haben und wofür sie sich begeistern.

Mit dem Format „Die virtuelle Schule“, das mediale pfade im Rahmen des HKW-Projektes „Schools of Tomorrow” (2017-2019) entwickelte, haben wir versucht, diesen Rahmen pädagogisch fruchtbar zu machen. Im Medium „Virtual Reality“, das noch immer die Attraktion des Neuen bietet, konnte der Wunsch nach Unterhaltung und Spiel in selbstgestaltete Lernprozesse münden, die wie nebenbei zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen einluden. Doch als Projektentwickler*innen stellten sich uns anfänglich grundlegende Fragen: Warum ein Projekt in virtueller Realität? Was ist hier der Stand und wo liegen die Chancen und Herausforderungen?

Die Versprechungen virtueller Realität haben aktuell Konjunktur. Zeitgenössische Technologien in Form von Smartphones, VR-Brillen, aufwändigen Spieleentwicklungen und kostenpflichtigen Plattformangeboten flankieren eine aktuell noch recht diffuse Markterwartung: „Was wollen wir eigentlich in VR?“

Der VR-Pionier, Forscher und Direktor des VHIL der Stanford University, Jeremy Bailenson, spricht über die Ziele der Technologiekonzerne und kommt zu dem Schluss, dass diese selbst nicht wüssten, was sie ihre Kunden in der virtuellen Realität eigentlich machen lassen wollten: “I think they’re struggling with the, “What do we really want people to do in here?” Das Geschäft mit der virtuellen Realität scheint selbst noch ein ausgesprochen virtueller Markt zu sein, wobei der Begriff „virtuell“ in seiner ursprünglichen Bedeutung Gestalt annimmt. In diesem Markt sind vor allem Möglichkeiten angelegt und angedacht. Die Frage ihrer sinnvollen Verwirklichung scheint bislang noch unbeantwortet.

Für die Künste und die kulturelle Bildung war das Virtuelle stets ein Zuhause. Träume, künstliche Paradiese, die Unbegrenztheit des Imaginären, das Ausloten von Möglichkeitsräumen menschlicher Existenz, die Entwicklung gesellschaftlicher Visionen oder die Erfindung und Abwicklung von Utopien sind hier nichts Neues. Mit Blick auf die kulturelle Bildung lässt sich allerdings fragen, wie groß ist die Rolle, die digitale Technologien, darin bereits spielen. Medienkunst gibt unzählige Beispiele dafür, was möglich und machbar ist. Das Feld erweitert sich stetig um Performances, Installationen und Experimente. Aber wo steht die kulturelle Bildung?

Im Zusammenspiel mit politischer Bildung und Medienpädagogik scheint sich einiges zu bewegen. Das ist nicht überraschend, lassen sich doch aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen vor dem Hintergrund von Digitalisierung, Plattformökonomie, sozialen Medien und selbstlernenden Algorithmen nicht allein aus einer Disziplin heraus verstehen. Umso wichtiger ist es, zeitgenössische Technologien im gesamten Bildungsbereich einzusetzen und nicht nur junge Menschen, sondern alle dabei zu unterstützen, mit digitalen Tools kreativ und emanzipativ umgehen zu lernen und so neue Teilhabemöglichkeiten zu erschließen.

„Virtual Reality“, „Augmented Reality“ und „Mixed Reality“ üben dabei eine große Anziehungskraft aus, einerseits weil die Erfahrung des Virtuellen noch längst nicht geläufig geworden ist und darum den Reiz des Neuen vermittelt, andererseits weil Tools zum Selbermachen mittlerweile gut funktionieren und niedrigschwellige Einstiegsformate ermöglichen. So versuchte auch das durch mediale pfade entwickelte und durchgeführte Projekt „Die virtuelle Schule“ den Einstieg in die virtuelle Realität pädagogisch fruchtbar zu machen.

Zunächst näherte sich das Projekt der Frage nach der Zukunft des Lernens partizipativ. Verschiedene Methoden machten sichtbar, wie weit der Lernbegriff der jungen Menschen reicht und was Schule damit zu tun hat. Überraschend war, dass sie sich von ihren alltäglichen Lernerfahrungen in der Schule nur schwer lösen konnten. In der zweiten Projektphase erschlossen sich die Schülerinnen und Schüler Tools, die nötig sind, um die veränderten Rahmenbedingungen einer VR-Produktion zu erfahren und zu verstehen. Mit Hilfe von 360°-Kameras und Smartphones sondierten sie die ihnen bekannte Schulumgebung und prüften deren virtuelle Qualitäten. Die dabei erstellten 360°-Aufnahmen der Schule konnten mit VR-Brillen und Smartphones betrachtet, ausgewertet und weiterverarbeitet werden.

In der dritten Projektphase wurden schließlich in CoSpaces virtuelle Lernräume entwickelt und umgesetzt. Hier zeigte sich früh, wie selbstverständlich Schülerinnen und Schüler das neue Medium nutzten: Komplexe Verschränkungen unterschiedlicher Räume wurden als virtuelle Realität oder als Mixed Reality umgesetzt, Portale beamten Besucher*innen von einen Raum in den anderen, im Spiel wurden Spiele umgesetzt (Mise en abyme) und Interaktionen mit Besucher*innen der Räume programmiert. Die virtuellen Lernräume wurden so zum Ausdruck von Lernerwartungen und Lernwünschen der jungen Entwickler*innen.

Da dieses Format ein Modellprojekt war, ergaben sich im Rückblick spannende Erkenntnisse: Die Chancen von VR liegen vor allem in neuen Herausforderungen. Wir sind wieder einmal gezwungen, „out of the box“ zu denken. Die Präsenz der VR-Rezipierenden im Medienprodukt selbst verlangt nach völlig neuen Erzähl- und Darstellungsformen, die Bewegtbild bislang nicht kannte. Und digitales Erzählen wird zunehmend komplexer, weniger linear und spielerischer - eine Entwicklung, die im Gamesbereich bereits üblich ist und die bestimmte Zielgruppen darum auch erwarten.

Zudem erlaubt die Interaktion mit anderen Personen in VR auch den Einsatz bestehender pädagogischer Konzepte, z.B. aus der Theaterpädagogik. Rezipierende in VR werden selbst Akteur*innen: Sie können digitale Avatare durch ihren materiellen Körper via „Motion Tracking“ bewegen, sogenanntes „Puppeteering“ (dt. Puppenspiel). Es ist möglich, Perspektiven, Erfahrungsweisen und -inhalte auch technisch zu teilen. Man kann sich selbst gewissermaßen in eine andere Haut stecken („Body Swap“) und andere Identitäten erleben.

Fragen der Herkunft oder geschlechtlichen Identität könnten so in VR in den Hintergrund treten, denn alle können im Grunde alles sein. Auf der anderen Seite bleiben diese Fragen in der Realität dann ungelöst. Darum ist es nötig, Bildungsprozesse in der virtuellen Realität an gesellschaftliche Wirklichkeiten zurückzubinden und Widersprüche zu thematisieren. Ob dadurch die Hoffnungen des Bildungsbereichs in Virtual Reality eingelöst werden, hängt nicht zuletzt davon ab, wie erprobt die Konzepte sind und wie valide die Forschung dazu. Beispielsweise untersucht das VHIL mit Experiences wie „Becoming homeless“oder „1000 Cut Journey“ bereits Möglichkeiten von Empathiebildung. Sollten sich hier tragfähige Bildungsformate anschließen lassen, würde sich der politischen und kulturellen Bildung ein sehr interessantes Tätigkeitsfeld öffnen.

Doch stellt sich bei neuen Technologien immer auch die Frage nach Zugängen. VR-Produktionen sind meist sehr kostenintensiv und hochwertige Ausrüstung im Consumerbereich verlangt Tausenderbeträge. Andererseits lassen sich die Grundlagen von VR auch schon mit dem eigenen Smartphone und günstigen Cardboard-Brillen attraktiv vermitteln. Nur über die niedrigschwelligen finanziellen und inhaltlichen Einstieg werden auch diejenigen Zielgruppen adressiert, die solche Angebote vor allem erreichen sollen. Wenn dabei die spielerischen und explorativen Bildungsansätze gestärkt werden und junge Menschen schließlich eigene Produktionen umsetzen lernen, dann kommen wir dem Ziel von echter Teilhabe auch im Digitalen ein entscheidendes Stück näher.

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