Notizen zur Corpoliteracy: Körper in (digitalen) Bildungskontexten

15.07.2020

Mehrere Schüler*innen sitzen vor Rembrandts Werk "Nachtwache", schauen aber auf ihre Smartphones
Wie sieht Lernen aus? Schüler*innengruppe im Rijksmuseum in Amsterdam im November 2014 | Foto: Gijsbert van der Wal

Lernen und Wissen schreiben sich in Körper ein. Bildungsprogramme sollten diesem Vorgang mehr Beachtung schenken – nicht zuletzt, wenn sich Lehrende und Lernende immer häufiger in digitalen Lernumgebungen begegnen.

Von: Gila Kolb

Dass wir nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Körper lernen, ist im Kontext der Bildungstheorien eine historische Konstante.[1] Der Kurator, Kunstkritiker und Biotechnologe Bonaventure Soh Bejeng Ndikung spricht über das im Körper eingeschriebene Wissen als „corpoliteracy“ und „corpoepistemology“ (2018). Ndikung (2018: 90) beschreibt „die Möglichkeit einer Körperlesekunde (corpoliteracy), die den Körper als Forum, Bühne, Schauplatz und Medium des Lernens, als Wissen ansammelndes, speicherndes und weitergebendes Gefüge und Organ kontextualisiert.“ In diesem Beitrag werden ausgehend vom Begriff corpoliteracy Fragen des Körpers in Bildungsprozessen aufgeworfen.[2] Im Folgenden argumentiere ich aus der Perspektive einer forschenden Kunstpädagogin. Es werden deshalb vor allem Aspekte der Bildung im Kontext mit Kunst in den Blick genommen. Dabei konzentriere ich mich auf die Fragen: Wie können Körper im Kontext von Bildung gelesen werden? Wie können sie aufeinander reagieren? Wie schreibt sich Lernen und Wissen sich in Körper ein? Und welche Fragen stellen sich im Kontext der digitalen Welten des distance learnings beim Einbezug „wissender“ Körper?

1. Körperwissen vs. Körperkönnen [3]

Was wird in der Schule eigentlich gelernt? Diese zunächst einfache Frage lässt sich aus verschiedenen Perspektiven beteiligter Akteur*innen jeweils sehr unterschiedlich beantworten. So würde vermutlich keine Lehrperson von ihrem Unterricht behaupten wollen, dass sie zur Fähigkeit der Schüler*innen beiträgt, Textnachrichten unter dem Tisch zu verfassen, während deren Gesicht scheinbar aufmerksam nach vorne gewandt ist. Doch das lernen Schüler*innen auch im Unterricht.[4]

Es ist eines von vielen Beispielen für Handlungsweisen, die aufgrund einer bestimmten Form von Schule (z.B. Frontalunterricht), sowie bestimmter Vorstellungen von Schule stattfinden.[5] Doch gerade in der Schule findet einerseits institutionell nicht intendiertes Lernen (z.B. Nachrichten unter dem Tisch verfassen) statt. Andererseits vermittelt Schule, die sonst oft eine normierende Funktion einnimmt, bestimmte Handlungsweisen auch nicht – beispielsweise, sich in der Dunkelheit nicht verloren zu fühlen oder einzuschlafen ohne befürchten zu müssen, etwas vergessen zu haben (Vgl. Modlin 2020).[6]

Die Künstlerin und Kunstvermittlerin Lea Fröhlicher hat für das künstlerische Vermittlungsprojekt „Kniffe wissen“ Menschen unterschiedlichen Alters in der Schweiz gebeten, ihre Kniffe zu zeigen; eine Auswahl davon ist fotografisch oder filmisch dokumentiert. „Kniffe“ versteht Fröhlicher als „ein spezifisches Wissen (Können), welches die Ausführung einer bestimmten Tätigkeit erleichtert.“ (Fröhlicher 2012 o. P.) Beispiele dafür sind: „Haare zusammenbinden ohne Haargummi“, oder „Einen klemmenden Reißverschluss wieder zum Laufen bringen.“. Also kaum Wissen, das sich auf dem Lehrplan einer Schule wiederfindet – aber für einige sicher nicht unrelevantes Wissen darstellt, sofern lange Haare oder ein widerspenstiger Reißverschluss vorhanden sind. Eine andere Bezeichnung dafür wäre Lifehacks, die alltägliche Dinge einfacher machen wie etwa das Schuhe Binden in zwei Sekunden.

Doch sind nicht nur Lifehacks auf digitalen Plattformen wie YouTube zu finden, sondern auch weitere Informationen aus der Welt des Selber-Könnens , des DIY und dessen Tutorials. Eine Sammlung, was alles selbst gekonnt werden kann, liefert die Ausstellung des Hartware Medienkunstverein „Jetzt helfe ich mir selbst – Die 100 besten Video-Tutorials aus dem Netz“ (2014), deren Playlist hier online zu sehen ist. Bereits das erste Video zeigt, was in gelingenden Bildungsbiografien von essentieller Bedeutung sein kann – und doch vermutlich noch in keiner Schulstunde zum Thema wurde: „How to open a door - Finnish instructional video from 1979“. Beim Betrachten des Videos entstehen Fragen bezüglich des eigenen, selbstverständlichen Handelns: Wie viele Türen haben Sie heute schon geöffnet und geschlossen? Mit welchem Fuß haben Sie den Raum, in dem Sie sich gerade befinden, betreten? Und: Seit wann ist Ihnen bekannt, dass das Drücken einer Klinke eine Türe öffnet? Wie können Sie wissen, in welche Richtung sie sich öffnen wird?

Das sind Beispiele für situiertes Körperwissen, auf das oft unhinterfragt zugegriffen wird. Ich möchte anhand dessen zeigen, was gemeint sein kann, wenn von situiertem Wissen die Rede ist, über das Menschen durch ihre Sozialisation in bestimmten Kontexten verfügen. Nicht allem Körperwissen können sich Menschen ständig bewusst sein. Genau hier kann kritisch hinterfragt werden, aber auch ein Erkennen von individuellen Potenzialen stattfinden. Dafür gilt es zu erkennen, was bereits gekonnt wird – neben dem, was gekonnt werden soll und könnte.

2. Was wollen Schüler*innen können

Die kunstpädagogische Gruppe „Methode Mandy“[8] hat 2014 ein Projekt zum „Können“ entwickelt und durchgeführt. Im Rahmen eines Speed Datings im Kunstverein in Hamburg wurden Schüler*innen nach ihrem Können gefragt und nach dem, was sie eigentlich können wollen.[9]

Das konnten diese Schüler*innen zum Beispiel: „Schmerzen ertragen; Fingernägel lackieren; lachen; sich ablenken lassen; objektiv bleiben; anderen zuhören; nerven; schweigen; T-Shirts bedrucken; Menschen beobachten; sich zurechtfinden; das Chaos beherrschen; Bruschetta machen; schlafen; Einrad fahren; Video spielen; kochen; mit wenig auffallen; trösten; diskutieren; Streit schlichten ...“ [10].

Was diese Schüler*innen hingegen können wollen, ist zum Beispiel: kreativ sein, eigenständig handeln, Ideen umsetzen, Sport, meditieren, debattieren, sich ernähren, denken, sich ausdrücken, Informatik, Biologie, mutig sein, zunehmen, eine Nacht durchschlafen, die eigene Meinung besser ausdrücken, geduldig sein, Zeitreisen, Spagat, in die Zukunft schauen, Songtexte merken können, Ballett, Italienisch sprechen, mehr Geduld aufbringen, ein Mal um die Alster laufen ohne Pause, Mathe verstehen, die Zeit anhalten …“ [11]

An dieser Intervention der Gruppe Methode Mandy zeigt sich, dass Schüler*innen, wenn sie gefragt werden, durchaus Lust aufs Lernen von Neuem haben – und manchmal auch an Dingen, für die eine Kenntnis des eigenen Körpers als lernendes und wissendes Element in ihrem Leben notwendig ist.

3. Wie können Körper im Kontext von Bildung gelesen werden?

Während bisher der Blick auf das, was in Lehr- und Lernsituationen gelernt wird oder werden könnte, im Fokus stand, geht es nun um die Frage, wie das eigentlich aussieht (oder aussehen soll), wenn Schüler*innen im Kontext mit Kunst lernen.

Ein Beispiel aus dem Jahr 2014: Die breit rezipierte Fotografie des Kunsthistorikers und Journalisten Gijsbert van der Wals zeigt mehrere Schüler*innen, die im Rijksmuseum in Amsterdam vor dem Gemälde „Nachtwache“ von Rembrandt van Rijns sitzend auf ihre Smartphones schauen. Nachdem es mit dem Hinweis „eine neue Generation“ [12 ]via Twitter gepostet wurde, entstand eine rege Diskussion und Distribution des Bildes, die van der Wals auf seinem Flickr-Account so zusammenfasst: „Es [das Foto] ging viral. Die Leute fügten oft ziemlich entmutigte Bildunterschriften hinzu: Die heutige Jugend interessiere sich mehr für Whatsapp als für Rembrandt. Auf der anderen Seite gab es Leute, die davor warnten, sich von dem Bild in die Irre führen zu lassen: Sie behaupteten, dass die Schüler*innen sich tatsächlich mit den Kunstwerken beschäftigt hätten, indem sie die frei herunterladbaren Multimedia-Touren des Museums nutzten.“[13] (van der Wal, 27. Nov. 2014)

Haben die Kinder etwas über das Bild recherchiert? Haben sie sich mit einem Kunstwerk beschäftigt, während sie dem Original selbst den Rücken kehren? Haben sie das freie WiFi des Museums genutzt, um sich mit anderen Inhalten zu beschäftigen und sich vom Kunstwerk selbst abgewandt? An den Kommentaren rund um die oftmals geteilte Fotografie lässt sich ablesen, dass diese Szene provoziert. Denn die über die kleinen Bildschirme gebeugte Haltung der Kinder sieht nicht so aus, wie erwartet. Das wäre: Dem Kunstwerk zugewandt, den Ausführungen eine*r Kunstvermittler*in lauschend, möglicherweise sich Notizen machend. Das wirft nicht nur Fragen auf, warum welche Praktiken in der Bildungseinrichtung Museum erwünscht oder nicht erwünscht sind.[14] Vielmehr verschiebt sich die Frage von: Wie sollen Kinder und Jugendliche einen Umgang mit Kunst betreiben zu der Frage: Wie betreiben sie diesen bereits?[15] Denn selbstverständlich ist es grundsätzlich möglich, auch beim scheinbar aufmerksamen Betrachten eben genau nicht hinzusehen, ein Spiel zu spielen oder mit anderen zu kommunizieren. Dies geht mit und ohne Smartphone.

Aber: Es sieht dann anders aus (für die Anderen). Deshalb geht es nicht nur darum zu bedenken, den Körper beim Lernen miteinzubeziehen (eine seit der Reformpädagogik vielfach geäußerte und wiederholte Forderung), sondern auch zu lernen, dass Lernen anders aussehen kann, als es sich Lehrende möglicherweise vorstellen.

4. Ein Nachtrag: #TalkingHeads: Ein Update zum Körperlernen

Während ich an diesem Artikel im März 2020 schrieb, hat sich durch die Corona-Pandemie die Welt und mit ihr die körperlichen Situationen des Lernens verändert. Während im schulischen und universitären Zusammenhang das analoge Zusammenkommen bisher Normalität war, von der aus gelegentlich und als Ausnahme mit dem Digitalen gearbeitet wurde, ist nun das Zusammenkommen in den digitalen Raum verlegt worden, um sich gesundheitlich nicht zu gefährden. Die digitale Situation beim Lehren ist in einigen Ländern seit dem Lockdown im März 2020 zum Normalfall geworden – zumindest temporär.[16] Das sogenannte distance learning der Hochschulen und Schulen findet nunmehr in den privaten Räumen der Lernenden und Lehrenden statt. Auch die Sichtbarkeit des Körpers erhält dadurch einen anderen Fokus.

Drei Beispiele für die veränderte Sichtbarkeit und Positionierung der Körper im Raum: 1) Während in den Klassenzimmern die über den Tischen und auf Stühlen positionierten Körper der Zuhörenden mindestens zur Hälfte (Oberkörper, Hände und Kopf) zu sehen und je nach Enge des Raumes auch zu riechen und zu spüren waren, sind nun vorwiegend Köpfe und damit Mimiken zu sehen, gelegentlich von Händen begleitet. 2) Zuvor waren die Körper der Sprechenden im Raum ganz oder teilweise zu sehen. Trotz der von der Raummöblierung oft schon vorgegebenen Positionierungen bestand für Teilnehmende die Wahlmöglichkeit von körperlicher Nähe oder Distanz. 3) Lehrende konnten wählen, sich näher zur Projektion oder näher zur Gruppe zu bewegen, sich in die gleiche Blickrichtung der Gruppe oder dagegen zu positionieren. Lernende konnten einen Sitzplatz wählen, sich vor- oder zurücklehnen, einen aufgeklappten Laptop oder Buch als Sichtschutz verwenden. In einer Online-Videokonferenz findet die Wahl des Platzes nicht individuell statt[17], die Plattformen ordnen die Teilnehmenden zufällig bzw. nach Anzahl und Länge der Redebeiträge an.

Die Menschen und Körper in den nun vermehrt stattfindenden Videokonferenzen im Kontext der Lehre werden mittels Online-Plattformen auf einzelnen Rechner ausgespielt – oft in Form kleiner Kacheln, auf denen alle Teilnehmenden zu sehen sind.[18] Der gemeinsam geteilte Raum und die Teilnehmenden darin sind nicht mehr zu hören – zumindest dann, wenn die Teilnehmenden ihr Mikrofon ausschalten, um mögliche Störgeräusche zu minimieren. All das hat Folgen für das Lernen der Körper, das gemeinsame Lehren und Lernen als Körper und mit Körpern.

Fünf Beispiele dazu, wie Körper im Digitalen anders gelesen und verstanden werden, möchte ich hier aufführen. Diese Liste würde und wird sich in den nächsten Wochen und Monaten noch weiter verändern.[19] Wie bei fast allen Fällen lässt sich eine analoge Situation nicht eins zu eins im Digitalen abbilden – alleine schon, weil die digitalen Welten eben nicht (nur) den Logiken des Analogen entsprechen. Deshalb geht es hier nicht darum, das Eine gegen das Andere auszuspielen – sondern Veränderungen aufzuzeichnen, aus denen sich eine mögliche digital corpoliteracy ableiten ließe.

4.1 #talkingheads

Durch den Fokus der Kamera auf das Gesicht werden sonstige Gesten des Körpers unsichtbar. Die Programme geben den Teilnehmenden die Möglichkeit, sich selbst beim Sprechen zu beobachten und ggf. die eigene Mimik (aber auch die Frisur) zu korrigieren. Möglichkeiten des körperlichen Ausdrucks (Zurücklehnen, lautes Atmen, den Blick schweifen lassen... ) sind reduziert. Sich gegenseitig in die Augen zu schauen, ist kaum möglich, denn dies würde bedeuten, sich mit dem Blick in die Kamera zu begegnen.[20]

4.2 Werkzeuge und Plattformen

Am 8. April 2020 zwischen 8 und 18 Uhr habe ich Zoom, Jitsi, Ilias, Dropbox, Skype, Whatsapp, Telegram, Mail, Word, Indesign, Nachrichten, Facetime, Discord, Wetransfer, Isyflow, Moodle, Teams, Slack, Google Docs, Blog, Instagram, Balloon.io, Facebook, Messenger, Mentimeter und Twitter verwendet, um zu Lehren und zu Lernen. An manchen Tagen des Lockdowns höre ich mich fragen: „Wo treffen wir uns?“, obwohl kein realer Ort, sondern die mediale Plattform gemeint ist. Mein Körper hat sich derweil nur zwischen Arbeitsplatz, Küche und WC bewegt. Gelegentlich werden die jeweiligen Funktionen innerhalb der Plattformen miteinander verwendet (z. B. Mentimeter in Zoom). Während Lernende und Lehrende Tische und Stühle im Raum umstellen und sich einrichten können, fehlt es bisher noch an Möglichkeiten, Funktionen digitaler Plattformen anzupassen oder neu zu erfinden.[21]

4.3 #heyhost

Der lehrenden Person kommen mehrere Rollen zugleich zu: Sie ist nicht nur Inputgebende und Moderierende, sondern auch Verantwortliche für Technik und Zugänglichkeit. Analog formuliert: Die Gruppe sitzt nicht in einem Raum zusammen, der irgendwann stickig werden wird. Die gemeinsame Verantwortung dafür, allenfalls das Fenster zu öffnen, entfällt. Dafür sorgen die Teilnehmenden selbst für ihre jeweiligen eigenen digitalen Zugänge (Internetverbindung). Rollen sind oft ungeklärt: Was, wenn die private Netzverbindung der einzelnen nicht ausreicht, um mit 20 Menschen gleichzeitig im Kontakt zu sein? Es entsteht ein anderes, deutlich individualisierteres Zusammenkommen mit veränderten Verantwortlichkeiten.

4.4 Private Räume

Das Lernen und Lehren ist noch privater geworden. 1) Der institutionelle Raum, der zur Begegnung genutzt wird, wurde durch einen externen, privaten Serviceanbieter privatisiert.[22] 2) Bisher oft privat genutzte Tools (z. B. Skype oder FaceTime) werden nunmehr als Arbeitsräume verwendet. 3) Der Blick in die eigenen privaten Räume[23] sowie in die der anderen wird teilweise möglich. Wenn die Kamera abgeschaltet ist, können beim Zuhören auch private Dinge erledigt werden.[24]

4.5 Gleichzeitigkeit der Körper

In zwei Umfragen haben Lernende auf die Fragen „Was gefällt mir an der digitalen Lehre? / Was gefällt mir nicht an der digitalen Lehre?“[25] geantwortet. Nichtgefallen löst die „Leere im Raum“; die „Körperlosigkeit“ aus. Sie stehen den Vorteilen „ortsunabhängig“ zu sein, „unabhängig von Umständen“ sowie „verschiedene Räume“ zu haben gegenüber. Seitdem viele Veranstaltungen online stattfinden, haben sich die Zugänge und Möglichkeiten verändert. Sie erlauben es, sofern die nötigen technischen Ressourcen vorhanden sind, z. B. an öffentlichen Talks aus aller Welt teilzunehmen. Sich verbindlich zu versammeln ist einerseits einfacher geworden – und ressourcenschonender, denn der Körper selbst muss dafür nicht in Bewegung gesetzt werden. Die Zugangsbarrieren haben sich also verlagert. Andererseits wird eine körperliche Verbindlichkeit vermisst.

Eine digitale Corpoliteracy?

Die hier skizzenhaft ausgeführten Beispiele dokumentieren Momente, in denen direkte Übertragungen vom Digitalen ins Analoge gesetzt werden und nicht mehr zu passen scheinen. Was zuvor als Strategien und Gesten flüssig ineinandergriff, gerät ins Stolpern. Ganz konkret sollen diese Beispiele dazu auffordern, die bisherige Praxis innerhalb von Bildungsprozessen zu überdenken. Dies ist meiner Meinung nach eines der großen Potenziale, die der aktuelle Wandel des sogenannten distance learnings mit sich bringt: Dass sich aus diesen Momenten Fragen, Ideen und Strategien entwickeln und auch schon entwickelt haben. Jetzt gilt es, sie wertschätzend und kritisch zu befragen.[27] Wie verändert sich beispielsweise die Lernerfahrung, wenn es Lehrformate gibt, in denen die Studierenden sich selbst und ihr Lernen mehr organisieren? Welche Wege, anders zu lehren – oder auch: nicht dermaßen zu lehren[28] – gibt es?

Im Kontext von Bildungstheorien ist das Lernen mit dem Körper ein Argument, das in einer geradezu reflexhaften Weise dem Lernen mit und im Digitalen gegenübergestellt wird – auch und gerade, wenn es um Kunst und ihre Vermittlung geht. Doch die Welt ist im Wandel und mit ihr die Kunst, denn die digital und global zirkulierenden Bilder und der Umgang mit ihnen modifizieren die Ausgangssituationen des Lernens und Lehrens. (Vgl. Meyer/Kolb 2015, Kolb/Schütze 2020). Gelegentlich verändern sie dabei auch deren Hierarchien. Zum Beispiel dann, wenn sich die Lernenden besser mit digitalen Geräten und ihren Plattformen auskennen als Lehrende. Doch es sind nicht nur Zeit und Raum, sondern auch die Körper, die sich darin bewegen – und ihre Wahrnehmung. Das, was sie darin tun können und wie sie dabei gelesen werden, sollte Teil des Curriculums kritischer Anstalten werden.[29]

Fußnoten:

[1] Beispiele dafür sind die bis heute zitierte und keineswegs unproblematische Einheit von „Kopf, Herz und Hand“ (Pestalozzi 1746 – 1827), die Schulung der Sinne bei Rousseau (Émile 1762), die selbstständige Entwicklung und Eigentätigkeit in der Reformpädagogik. Kritisch reflektiert wurde die Idee des lernenden Körpers etwa im Kontext des hidden curriculums (Postman & Weingartner 1969). Als wissend beschreibt ihn bell hooks beim Aushandeln der Lehrräume und -inhalte, bei der die Personen als Ganzes, folglich auch mit ihren Erlebnissen und Geschichten, Raum finden (1994).

[2] Der Beitrag entstand im Frühjahr 2020 aus einem Diskussionsbeitrag mit Ed Greve, Ayşe Güleç, Gila Kolb, Tuğba Tanyılmaz. Moderiert wurde es von María do Mar Castro Varela anlässlich des Symposiums „Körper lesen! Corpoliteracy in Kunst, Bildung und Alltag“ im September 2019 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Die Diskussion ist hier online: https://hkw.de/de/app/mediathek/video/78520 [13.06.2020].

[3]Der Begriff «Körperwissen» und dessen Diskussion in künstlerischen Lehr-Lernverhältnissen würde mindestens einen eigenen Beitrag erfordern. Zur weiteren Lektüre: Kathrin Busch 2016, Rogg/Hummel 2016, Ulrike Hentschel 2016, Alexander Hentschel 2020.

[4] Eine wunderbare Sammlung dieser und vieler anderer Fähigkeiten und Möglichkeiten findet sich auf der Seite http://hiddencurriculum.info/ [13.06.2020] von Annette Krauss. Für den Besuch einer Ausstellung haben dies Claudia Hummel und Annette Krauss als «Sehen am Rande des Zufalls» im Kontext der documenta 12 dokumentiert: https://www.documenta12.de/de/100-tage/100-tage-archiv/documenta-12-vermittlung/sehen-am-rande-des-zufalls.html [13.06.2020

[5] Die Publikation «Fragen ans Curriculum» (Berlin 2016) von Claudia Hummel und Ursula Rogg versammeln unter der Relektüre von «Fragen und Lernen. Die Schule als kritische Anstalt» (Frankfurt a.M. 1972) von Neil Postman und Charles Weingartner hierzu eine Reihe relevanter, interdisziplinärer Perspektiven.

[6] Diese und andere Beispiele dafür gibt das Gedicht «What You Missed That Day You Were Absent from Fourth Grade” von Brad Aaron Modlin, auf das mich die Illustratorin und Kunstvermittlerin Dahlia El Broul aufmerksam gemacht hat. Es ist hier zu hören: https://onbeing.org/programs/a-poem-for-what-you-learn-alone/ [13.06.2020]

[7] Die Theoretikerin, Kunstvermittlerin und Kuratorin Nora Sternfeld beschreibt als „savoir/pouvoir“ jenes Wissen/Können, das Schüler/innen, Kunstpädagog*innen, Publikum usw. zum Handeln ermächtigt, wenn diese ihre Tätigkeit eben nicht nur als eine das Wissen reproduzierende verstehen, sondern als eine, die aktive Handlungsmöglichkeiten eröffnet – und auch einfordert. Vgl. Sternfeld 2010.

[8] Methode Mandy ist eine Gruppe junger Kunstpädagog*innen, deren Praxis es ist, einen Raum des freien Programmierens von Handlungen und Kommunikation, von Können, von Wissen und von möglichen zukünftigen Gegenwarten zu eröffnen. In der Logik von Schule ist Mandy ein Name, der nicht unbedingt mit Attributen wie „freundlich” und „leistungsstark” in Verbindung gebracht wird. Obgleich es kein einheitliches Verständnis von Mandy gab und gibt, steht dieser Name für eine gewisse „unterschätzte Teilhabe”, „ungehörte Stimmen”, „diskursferne Inhalte” und das Sichtbarmachen scheinbar unhinterfragter Annahmen in der Kunstpädagogik. https://methodemandy.com [13.06.2020]

[9] Vgl.: Annemarie Hahn, Robert Hausmann, Gila Kolb, Kristin Klein, Matthias Laabs, Konstanze Schütze (2014): METHODE MANDY. Online unter: http://whtsnxt.net/208 [13.06.2020]

[10] Antworten von Schüler*innen der 11. Klasse auf die Frage „Was kann ich?“ im Workshop mit Methode Mandy im Kunstverein Hamburg, Oktober 2014. Zitiert nach: Vgl.: Annemarie Hahn, Robert Hausmann, Gila Kolb, Kristin Klein, Matthias Laabs, Konstanze Schütze (2014): METHODE MANDY. Online unter: http://whtsnxt.net/208, o. P.. [13.06.2020]

[11] Antworten von Schüler*innen der 11. Klasse auf die Frage „Was möchte ich können?“ im Workshop mit Methode Mandy im Kunstverein Hamburg, Oktober 2014. Zitiert nach: Vgl.: Annemarie Hahn, Robert Hausmann, Gila Kolb, Kristin Klein, Matthias Laabs, Konstanze Schütze (2014): METHODE MANDY. Online unter: http://whtsnxt.net/208, o. P.. [13.06.2020]

[12] Der Tweet ist in niederländischer Sprache verfasst. Übersetzt lautet dieser: „Neue Generation von Museumsbesuchern heute Nachmittag im @rijksmuseum.“ https://twitter.com/wijdopenogen/status/538085905987567616 [13.06.2020]

[13] Übersetzung der Verfasserin. Wie van der Val dort weiter beschreibt, wurde das Foto alleine auf Facebook 9.500 mal geteilt. https://www.flickr.com/photos/gijsvanderwal/15893868835 [13.06.2020]

[14] Vergleiche hierzu die Publikationen von trafo.k: Herein.at: http://www.herein.at/ Sowie die Publikationen der Reihe Schnittpunkt; insbesondere Band 1: „Wer spricht? – Autorität und Autorschaft in Ausstellungen“, Wien 2005.

[15] Michel Serres spricht hier von den „kleinen Däumlingen“ (Serres 2013: 10), die sich jedoch nicht nur durch ihre Fähigkeiten, Geräte mit dem Daumen zu bedienen, auszeichnen, sondern ihnen zusätzlich attestiert, dass sie nicht mehr die gleichen Bezugsreferenzen wie etwa Raum oder Zeit haben - und sich damit eine Transformation abzeichnet, die bisher noch nicht mit einem Blick überschaubar ist (vgl. Serres 2013:18).

[16] Auch schon vor Covid 19 wurde mit digitalen Lernszenarien gearbeitet – jedoch damals wissend, dass die analoge Situation den Normalfall darstellt. Diese Situation hat sich seit dem Lockdown im März 2020 grundlegend verändert.

[17] Mehr zu der Macht von Plattformen siehe: Michael Seemann: Plattformen als politische Ökonomien. https://mspr0.de/?p=5186 [13.06.2020]

[18] Der in diesen Aufnahmen mehr oder weniger zufällig gewählte Hintergrund soll hier nicht weiter besprochen werden – er ist Gegenstand einer anderen, eigenen Untersuchung, etwa zur Frage der Selbstinszenierung, Selbstdarstellung, Positionierung der Kamera etc..

[19] Dieser Textteil entstand in einer Zeit, in der ich meine eigene Lehre an der Hochschule der Künste und PH Bern sowie an der Universität zu Köln von einem Tag auf den anderen online durchgeführt habe. Dabei stand ich in einem regen Erfahrungsaustausch mit Arbeitskolleg*innen rund um das online – Lehren. Ich danke für diese kollegialen Reflektionsräume: Jacqueline Baum, Maren Polte, Andrea Rickhaus, Italo Fiorentino, Katja Zeidler, Konstanze Schütze, Duygu Örs, Wolfgang Jung, Ibrahim Quarishi, Renate Höllwart, Beate Florenz, Haimo Ganz.

[20] Besonders deutlich wird der Blick erlebbar, wenn sich die Teilnehmenden gegenseitig zeichnen: Denn sowohl der eigene Blick auf dem Gesicht des Gegenübers kann nicht wahrgenommen werden, als auch der des Gegenübers nicht. Versuchen Sie es einmal selbst.

[21] Z. B.: Wie würde ein digitaler Stuhlkreis aussehen? Wie könnte eine Gruppe gemeinsam jeweils an ihrem Ort spazieren gehen und sich dabei austauschen?

[22] Zu dieser Problematik, vor allem zur Gestaltungsfreiheit, vgl.: Public Money, Public Code – auch für Bildungseinrichtungen. Monika Heusinger. In: Die Datenschleuder. das wissenschaftliche fachblatt für datenreisende. ein organ des chaos computer club. Ausgabe 101/ 2019, S. 24-28, hier S. 27. Online: https://ds.ccc.de/pdfs/ds101.pdf [13.06.2020]

[23] Dies ermöglicht es anderen Akteur*innen als zuvor, am Seminargeschehen teilzunehmen und es ggf. zu beeinflussen, wie etwa Mitbewohner*innen, Kinder oder auch Haustiere, wie z.B. die in der Wohnung lebende Katze, die ggf. den Bildschirm für sich einnimmt und damit die kollektive Aufmerksamkeit sowie «awww»- Rufe auf sich zieht.

[24] Es ist nicht klar, ob die Konzentration sich dadurch besser oder schlechter halten lässt – zunächst einmal ist es eine andere Qualität.

[25] Im Rahmen eines Gesprächs zum digitalen Lernen und Lehren in den Künsten am 11. Mai, sowie in einem von mir geleiteten Seminar am 15. Mai. https://www.fhnw.ch/de/die-fhnw/hochschulen/hgk/institute/institut-lehrberufe-fuer-gestaltung-und-kunst/aktuelles/terrain-051-mit-gila_kolb [13.06.2020]

[26] Ich erinnere an die seit einigen Jahren verfügbaren guided tours mit einem Roboter im Van Abbe Museum, die genau diesen Ressourcenwechsel bereits seit einigen Jahren praktizieren. https://vanabbemuseum.nl/en/mediation/inclusion/museum-visit-with-robot/ [13.06.2020]

[27] Anstatt sie zugunsten einer schnell wieder hergestellten „Normalität“ gänzlich zu vergessen.

[28] Verstanden als ein kritisches Lehren im Bezug auf «die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1992, S.12).

[29] Hierbei beziehe ich mich auf die deutsche Übersetzung von Postman/ Weingartners Publikation „Teaching as a subversive activity“, die: „Fragen und Lernen. Die Schule als kritische Anstalt“ (1971) lautet.

Literatur:

bell hooks: Teaching to Transgress: Education as the practice of freedom. Routledge New York 1994.

Michel Foucault: Was ist Kritik? Aus dem Französischen von Walter Seitter. Merve Verlag Berlin 1992.

Annemarie Hahn, Robert Hausmann, Kristin Klein, Gila Kolb, Matthias Laabs, Konstanze Schütze: Methode Mandy. In: Torsten Meyer, Gila Kolb (Hg.): Next Art Education. München 2015, S. 113-117.

Monika Heusinger: Public Money, Public Code – auch für Bildungseinrichtungen. In: Datenschleuder 101 / 2019, S. 24-28. Online: https://ds.ccc.de/pdfs/ds101.pdf [13.06.2020].

Claudia Hummel, Ursula Rogg: Fragen ans Curriculum. Universität der Künste Berlin 2016

Gila Kolb/ Konstanze Schütze: Post-Internet Art Education als kunstpädagogisches Handlungsfeld. In: Jane Eschment, Hannah Neumann, Aurora Rodonò, Torsten Meyer: Arts Education in Transition. Kopaed München 2020, S. 261-276.

Oliver Marchart in Conflictual Aesthetics: Artistic Activism and the Public Sphere. Sternberg Press Berlin 2019.

Torsten Meyer, Gila Kolb: What’s Next? Art Education. Kopaed München 2015

Neil Postman, Charles Weingartner: Teaching as a subversive activity. Delacorte Press New York 1969.

Michel Serres: Erfindet euch neu! - Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2013

Nora Sternfeld: Das gewisse Savoir/Pouvoir: Möglichkeitsfeld Kunstvermittlung. In: ADKV (Hg.): Collaboration Vermittlung Kunstverein. Salon Verlag, Köln 2010. Link: http://www.rueckkopplungen.de/PDF/Katalog%20Collaboration_Sternfeld.pdf

Bonaventure Soh Bejeng Ndikung: Corpoliteracy In: Sepake Angiama, Clare Butcher: Aneducation. Archive Books Berlin 2018, S. 90-96.

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