Kunstvermittlung im Ausnahmezustand

02.10.2020

Schilder vor einem Museen in verschiedenen Farben, darauf steht: The Museum is temporarily closed.
Wie viele andere Kulturbetriebe musste auch das Landesmuseum Zürich aufgrund der Corona-Pandemie im Sommer vorübergehend schließen. | Foto: Patrick Robert Doyle / Unsplash

Die Corona-Pandemie hat auch den Bereich der Kunst- und Kulturvermittlung in den Ausnahmezustand versetzt. Im Anschluss an die dreiteilige Online-Gesprächsreihe „Fragen an die Zukünfte der Kunstvermittlung“ in den KW Institute for Contemporary Art führen Duygu Örs, Katja Zeidler, Konstanze Schütze und Gila Kolb ein Gespräch über Arbeitsbedingungen und Zukunftsvisionen im Bereich Kunstvermittlung.

Gila Kolb: In unserem Gespräch werden wir insbesondere die aktuelle Situation der Kunstvermittlung und der darin beteiligten Akteur*innen im Kontext der allgemeinen Anforderungen an das Feld seit dem Lockdown und der anhaltenden Krise rund um COVID-19 diskutieren. Bei dem Format „Art Educator’s Talk LIVE“ geht es darum, aus der Praxis heraus zu sprechen und zu diskutieren.

Konstanze Schütze: Der Untertitel unserer ersten Veranstaltung im Juni war „Kunstvermittlung im Ausnahmezustand?!”. Wie sah dieser Ausnahmezustand in den Institutionen für Euch aus? Was habt Ihr beobachtet?

Katja Zeidler: Viele Akteur*innen fanden es sehr alarmierend, wie im deutschen, im internationalen – hier besonders US-amerikanischen – Kontext[1] sichtbar wurde, welchen Stellenwert die Kunst- und Kulturvermittlung wirklich einnimmt. Etliche Häuser haben als eine erste Maßnahme ihre Vermittlungs- und Bildungsabteilungen gekürzt oder gar geschlossen[2] und somit ihre oft ohnehin freien (weiblichen) Mitarbeiter*innen in die finanzielle Ungewissheit geschickt.[3] Durch den Lockdown und die geltenden Hygieneverordnungen haben sich also die prekären Arbeitsbedingungen für Kunstvermittler*innen enorm verschärft. Es wurde ebenso deutlich, dass es vor allem für selbstständige Kunstvermittler*innen an Sicherheitsnetzen wie Ausfallhonoraren, aber auch einer unabhängigen Interessenvertretung mangelt, die sich gegenüber den Institutionen für die Belange der Szene einsetzt.

Ich selbst spreche aus einer privilegierten Situation; ich bin in den KW angestellt und wurde während der Schließzeit nicht gekündigt. In den KW sind einige Kunstvermittler*innen projektbasiert angestellt und wurden entsprechend in der Kurzarbeit anteilig bezahlt. In den meisten Fällen beauftragen wir in den KW und bei der Berlin Biennale freie Mitarbeiter*innen. Hier drängt sich für mich die Frage auf, die auch Nanna Lüth während ihres Inputs im zweiten Art Educator’s Talk formulierte: Was können alternative Formen der Beauftragung und Zusammenarbeit sein? Ich sage das vor dem Hintergrund, dass es unklar ist, ob wir einen zweiten Lockdown oder weitere „Ausnahmesituationen” in naher Zukunft bewältigen müssen. Hier sehe ich großen Handlungsbedarf.

Gila: Mit den Folgen der Schließung der Museen wurden auf einmal Inhalte sichtbar, die im akademischen Diskurs schon als geklärt scheinen. Etwa, dass Kunstvermittlung nicht nur dann stattfindet, wenn der*die Kunstvermittler*in mit den Besucher*innen im Museum steht – sondern dass Kunstvermittlung grundsätzlich starke konzeptionelle und theoretische Anteile hat und Zeiten der Vorbereitung, Planung und Evaluation bedarf. Stattdessen begegnete mir oft die Vorstellung: Wenn die Museen eingeschränkt arbeiten, dann haben die Kunstvermittler*innen doch auch nichts zu tun?

Katja: Ja, der Eindruck entstand zumindest am Anfang; entsprechend wäre das eine sehr limitierte Vorstellung von Kunstvermittlung.

Duygu: Wer hat welche Expertise? Oder wem wird welche Expertise anerkannt? Diese Fragen haben in dieser Krise einen ganz zentralen Platz eingenommen. Wer gibt beispielsweise Führungen, warum werden sie auf einmal zur Chef*innensache? Im regulären Betrieb ist die Besetzung der öffentlichen Führungen sonst anders organisiert.

Konstanze: Es gab noch eine andere Verschiebung mit dem Fokus auf das Lokale. Liebe Duygu, Du arbeitest ja derzeit für die 11. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst und damit für eine Institution, die stark international orientiert ist. Wie hast Du die Verschiebung erlebt?

Duygu: Die 11. Berlin Biennale wurde erst einmal auf ein unbekanntes Datum verschoben, was natürlich nicht nur die Organisation der Vermittlungsarbeit erschwerte. Vieles musste im Allgemeinen neu konzipiert werden. Was ich dabei besonders spannend fand, war der einsetzende Perspektivwechsel, der zugunsten lokaler Besucher*innen ging oder gehen sollte. Das war natürlich nicht nur im Kontext der Berlin Biennale zu beobachten. Für die Vermittlung ist dieser Anspruch nichts Neues gewesen. Abteilungsübergreifend hat er jedoch eine andere Bedeutung. In dem Projektraum der Biennale im Exrotaprint in Berlin-Wedding, den es fast seit einem Jahr gibt, sollte der Fokus eigentlich immer auf Nachbarschaft liegen. Aber wie viel Nachbarschaft erlaubt ein internationales Programm, das vorwiegend in englischer Sprache angelegt ist? Das Wegfallen des ursprünglich kuratierten Programms war insofern eine Chance, die wir im Vermittlungsteam versucht haben zu nutzen. Unsere Outreach-Strategie hat sich komplett verändert: ohne Newsletter und E-Mail-Anmeldung, ganz analog mit persönlich angebrachten Nachbarschaftsbriefen, Anmeldungen über WhatsApp und Gesprächen auf der Straße. Kleinere Teilnehmer*innenzahlen waren kein Problem mehr, es konnten sowieso nur vier bis fünf Personen mitmachen. Der Erfolg eines Angebots, das institutionell immer auch in wirtschaftlichen Kennzahlen gemessen wird, konnte nun ganz anders definiert werden.

Gila: Im Kontext des Lockdowns kam es zu Entlassungen und damit zur Marginalisierung von Kunstvermittlung. Doch die fehlende Aufmerksamkeit oder vielleicht auch Kenntnis darüber, was Kunstvermittlung eigentlich alles sein kann, scheint auch dazu geführt zu haben, dass es größere Spielräume gab. Genauer gesagt, Ihr konntet Euch solche eröffnen. Wenn Ihr erzählt, dass Ihr keine Newsletter mehr verschicken musstet, klingt es so, als gäbe es weniger Druck, etwas nach außen zu zeigen. Als müssten keine Bilder produziert werden, die man dann im Nachhinein wieder im Newsletter verschicken kann.

Duygu: Es sind auf jeden Fall Spielräume entstanden. Wie wir diese gestalten, mussten wir uns trotzdem erkämpfen. Es schien, Vermittlung könne es momentan nicht geben. Wir waren in eine Schockstarre gefallen, in der wir schauen mussten, was überhaupt machbar war. Welche Möglichkeiten können wir nutzen? Welche Konzepte schweben uns vor?

Konstanze: Sprecht Ihr da von einem Vakuum, das Ihr als Möglichkeitsraum für neue Formate genutzt habt?

Katja: Bedingt. Die Ausgangsbeschränkungen, die hier in Berlin knapp drei Monate dauerten, waren eigentlich zu kurz, um sich die Umstände in den einzelnen Institutionen anzuschauen und radikale neue Wege einzuschlagen. Ja, es gab ein Vakuum, das wir mit kleineren experimentellen Formaten füllen konnten, die an einigen Stellen längerfristig im Programm etabliert wurden. Sei es etwa Inside Out KW,[4] oder diskursive Formate wie der bereits erwähnte „Art Educator’s Talk“. Im Nachhinein bin ich dankbar darüber, dass unsere Veranstaltungsreihe digital stattfand. So haben wir eine viel größere Bandbreite an Perspektiven kennengelernt. In diesem Format stellt sich jedoch die Frage, wer eigentlich Zugang zu diesen Diskurs-Räumen hat, die durch die Ausnahmesituation nur noch eingeschränkt verfügbar sind? Für eine genaue Analyse dieser Frage hat sich die Situation, zumindest in Berlin, zu schnell entspannt.

Gila: Ich finde: Es ist schon jetzt sehr schade um die ganzen Potenziale und neuen Formate, die innerhalb des Lockdowns mit viel Energie, Kreativität und Engagement entwickelt und ermöglicht wurden!

Konstanze: Dies ist eine der wichtigsten Überlegungen. Gibt es Lösungen, Ansätze und Formate, die sich nicht nur bewährt, sondern tatsächlich etwas Neues angestoßen haben, das es zu bewahren und ausbauen gilt?

Duygu: Für mich war die prägendste Erkenntnis aus dieser Zeit eigentlich die plötzliche Exklusivität der musealen Räume, was durch den Lockdown nicht mehr als Problem begriffen wurden. Der bis dato so aktive Diskurs rund um Öffnung, Beteiligung und Outreach schien nicht mehr zu passen. Die Arbeit an den Ausstellungen geht weiter, auch wenn die Besucher*innenzahlen stark limitiert sind und der Zugang im Rahmen der Hygienebestimmungen erschwert und verkompliziert wird. Die Möglichkeiten in diesen Orten Erfahrungen zu machen, wurde immer geringer. Das einzige Vermittlungsformat, das noch gepusht wird, sind Führungen. Wer kann und will diese Führungen online überhaupt besuchen? Das ist alles extrem exklusiv. Dies ist nichts Neues, aber die Coronakrise hat die Logiken musealer Räume noch einmal vor Augen geführt. Wer entscheidet in Situationen wie dieser Krise über die Nutzung der Gelder für die Kunstvermittlung, wer entscheidet über die förderfähigen Formate, über Möglichkeitsräume?

Gila: Ein*e Kolleg*in hat in einem Workshop einmal die, wie ich finde, sehr treffende Frage gestellt: „Warum müssen wir [Kunstvermittler*innen] eigentlich immer wieder um dieselben Sachen kämpfen?“ Das gilt auch für jetzt: Die Themen Festanstellung, verlässliche Arbeitsbedingungen kommen jetzt mit COVID-19 wieder auf die Agenda. Wie können wir damit umgehen, dass Kunstinstitutionen immer noch mit einer Reihe von Leuten auf Honorarbasis arbeiten? Wie lässt sich beispielsweise mit Ausfallhonoraren umgehen? Ein Beispiel: Der Schweizerische Verband Mediamus führt eine Liste mit Honoraren für Kunstvermittler*innen, geordnet nach der Größe der Institution. Das ist eine gute Orientierung über die tatsächlich gezahlten Honorarsätze für Vermittlungsformate in der Schweiz von 2017 – und hilft bei dem Aufstellen und Verhandeln von Budgets. Eine solche Liste für den europäisch-deutschsprachigen Raum wäre sicher aufschluss- und hilfreich.

Katja: Für viele Häuser wäre es sicher nachhaltiger, drei festangestellte Mitarbeiter*innen zu engagieren, als jedes Mal im Bereich Outreach von Neuem anzufangen. Hier wird sich jedoch gerne auf geltende Förderbedingungen berufen, die es nicht ermöglichen, solche verbindliche Schritte zu gehen. Wenn jedoch die Bedingungen dies gegenwärtig nicht zulassen, dann sollten wir die Bedingungen ändern.

Konstanze: Dabei scheint die Frage nach der Organisation und Bildung von Netzwerken zentral. Vielleicht kommen wir auf den Ausgangspunkt unserer Talk-Serie zurück, die vor einem Jahr in der Berlinischen Galerie stattgefunden hat und in der deutlich wurde, dass es sehr dringenden Gesprächsbedarf bei den Akteur*innen gibt.

Katja: Bei der Veranstaltung in der Berlinischen Galerie ging es um den Einstieg in das Berufsfeld Kunstvermittlung. Es zeigt sich vermutlich bereits die Antwort auf die Frage, warum es eigentlich keine unabhängige Interessenvertretung für Kunstvermittler*innen gibt. Der Zugang zur Kunstvermittlung ist so mannigfaltig, wie es Institutionen gibt. Jedes Arbeitsverhältnis, sei es in Festanstellung oder in freier Mitarbeit, ist in sich einzigartig und situiert. Die Herausforderung für eine übergeordnete Interessenvertretung wäre es, allen Einzelfällen gerecht zu werden und gleichzeitig eine Form von Solidarität zu schaffen.

Gila: Nun möchte ich mit einem Zitat aus dem Buch “Das radikaldemokratische Museum” von Nora Sternfeld abschließen. Sie fragt darin nach den Werkzeugen für eine Situation von Kunstvermittlung, die es so vielleicht noch gar nicht gibt. Meine letzte Frage deshalb an Euch: Was braucht es eigentlich? Oder – was braucht Ihr?

Katja: Müssten wir uns nicht eigentlich viel mehr um unsere lokalen Nachbar*innen kümmern? Und hätten die KW in Zeiten des Lockdowns nicht auch eine andere Funktion übernehmen können? Um ein Beispiel zu nennen: Kurz vor den Sommerferien unterhielt ich mich mit einer Lehrerin, die berichtete, dass sie seit der Wiedereröffnung der Schulen in wesentlich kleineren Gruppen arbeitet. Viele Schüler*innen seien seither sichtbar aktiver und zufriedener. Die Klassengröße schien zum ersten Mal angemessen zu sein. Im Regelbetrieb lässt sich diese Arbeitsweise natürlich nicht aufrechterhalten, weil es die Räume und Ressourcen nicht hergeben. Institutionen, egal ob Museum oder Nachbarschaftsinitiativen, könnten Ressourcen zur Verfügung stellen und neue Lernräume gestalten. Warum kann eine Kunstinstitution nicht auch Schule sein? Oder eine Nachmittagsbetreuung? Wir sollten den (noch) vorhandenen öffentlichen Raum noch viel radikaler, hybrider denken und nach temporären Bedürfnissen organisieren und nicht danach, was oder wen sie repräsentieren. In den KW haben wir daher eine Kooperation ins Leben gerufen: mit den beiden Architekt*innen Alkistis Thomidou und Gianmaria Socci vom Kollektiv 45°, mit Schüler*innen der benachbarten Hemingway-Schule sowie Akteur*innen des Jugendgremiums Schattenmuseum und dem Verein Side Views, die sich ein Jahr lang diesen hybriden Nutzungs- und Beziehungskonstellationen widmen werden.

Duygu: Vielleicht können wir in diesem Zusammenhang noch mal zurück auf die Fragen von Exklusivität von Zugängen und Räumen kommen. Wenn man schaut, wie die Zugänge in die Kunstvermittlung sind, verwundert es nicht, dass es ein sehr weißes und weibliches Feld ist. Die Pandemie-bedingten Bestimmungen verstärken die bestehenden Verhältnisse. Und bei der bereits erwähnten Frage nach Räumen sollte eine politische Haltung stets mitbetrachtet werden, um das Recht auf diese Räume, um das Verhandeln dessen, was darin stattfindet und um das Recht auf das Zeitgenössische. Wenn dieses Recht nicht mit aller Deutlichkeit formuliert wird, dann wird am Ende immer wieder nur von denselben dasselbe verhandelt.

Fußnoten:

[1] Di Lisca, Valentina: MoMA Terminates All Museum Educator Contracts, in Hyperallergic Online, 3 April 2020, abrufbar unter diesem Link; Steinhauer, Jillian: A crisis in community reach: MoMA's arts educators on the consequences of their contract cuts, in: The Art Newspaper Online, 9.Juli 2020, abrufbar unter diesem Link.

[2] Open letter to museums and galleries in support of education and other essential workers, veröffentlicht am 20. April 2020, abrufbar unter diesem Link.

[3] siehe hierzu auch: Dr. Nora Wegener: Auswirkungen des Corona-Lockdowns auf die Arbeitsbedingungen von Kulturvermittler*innen an Schweizer Museen, 3. Juli 2020, abrufbar unter diesem Link.

[4] Die erste Ausgabe von Inside Out KW thematisierte die Ausstellung Hassan Sharif: I’m A Single Work Artist und wurde im Juni und Juli 2020 gedruckt, um in den KW, an öffentlich zugänglichen Orten wie Supermärkten, Buchläden, Apotheken, Ämtern und in den Briefkästen der Nachbarschaft verteilt zu werden. Die digitale Ausgabe kann heruntergeladen werden unter diesem Link.