Kann Tanz Grenzen überschreiten?

21.11.2020

Foto: Eugenia Maximova / Unsplash

Tanz und Bewegung sind weder universell noch per se verbindend. Die Bedeutung verschiedener Tanzpraktiken, Tanzsprachen, und Tanztraditionen hängt immer vom spezifischen kulturellen Kontext ab.

Von: Sandra Chatterjee

Tanz ist international, da nicht an Sprache gebunden.Vor allem bei Zeitgenössischem Tanz steht Grenzüberschreitung im Vordergrund, und er hat kritisches Potential. Über Tanz kann im Singular gesprochen werden.

Dies sind einige der Annahmen, die mir im Arbeitsfeld „Tanz“ -sowohl in der Praxis als auch in der Theorie - immer wieder begegnen. Als Beispiel möchte ich den Welttanztag (oder International Day of Dance) heranziehen, der 1982 vom Dance Committee des International Theatre Institute (ITI; Hauptpartner für Darstellende Künste der UNESCO) ins Leben gerufen wurde.

Bei dieser Initiative soll Tanz als eine universelle künstlerische Form zelebriert werden, die alle kulturellen, politischen und ethnischen Grenzen überschreiten kann und die Menschen durch einen gemeinsame Sprache - nämlich Tanz - vereint. (“to celebrate dance, revel in the universality of this art form, cross all political, cultural and ethnic barriers, and bring people together with a common language – dance [1]”). Allerdings: ein Ziel des Welttanztages, bei dem Tanzinstitutionen die Breitenwirksamkeit von Tanz beflügeln wollen, ist es, weltweit alle Formen des Tanzes zu fördern (“To promote dance in all its forms across the world” [2]).

Wenn ich den Tag bedenke, an dem der Welttanztag gefeiert wird (der 29. April), wird ein weiterer Widerspruch deutlich: Der 29. April ist vor allem für das europäische Ballett wichtig, denn es ist der Geburtstag des Ballettmeisters Jean-Georges Noverre (1727-1810). Noverre war einer der Protagonist*innen der Ballettreform des 18. Jahrhunderts. Direkt beeinflusst von den Umbrüchen der europäischen Aufklärung, ist Noverre von zentraler Bedeutung für die Entwicklung des Balletts der Moderne [3].

Diese Widersprüche scheinen offensichtlich, durchziehen aber den Tanzdiskurs oft unhinterfragt.

Ein anderes Beispiel: Der Diskurs über den Zeitgenössischen Tanz in Europa, den ich in meinem Artikel „Kulturelle Gleichzeitigkeit - Zeitgenössischer Tanz aus Post-migrantischer Perspektive“ eingehender analysiere, betont oft die Internationalität und Heterogenität des Zeitgenössischen Tanzes [4]. Und obwohl die Idee der Grenzüberschreitung auch hier von zentraler Bedeutung ist, bleibt Zeitgenössischer Tanz in Europa diskursiv innerhalb des Paradigmas des „westlichen künstlerischen Tanzes“ verortet: Als wichtige tanzhistorische Meilensteine werden die folgenden „Stationen“ wiederholt als prägend für Zeitgenössischen Tanz formuliert:

  • Abgrenzung vom Ballett
  • europäischer moderner Tanz (v.a. expressionistischer Tanz oder Ausdruckstanz)
  • das deutsche Tanztheater
  • amerikanischer ‚modern’ und ‚postmodern dance’ [5].

Allerdings: der aus europäischen und amerikanischen Tanzentwicklungen hergeleitete Zeitgenössische Tanz wird selten als ‚europäisch' oder ‚europäisch-amerikanisch' oder ‚westlich’ [6] benannt.

Gleichzeitig gibt es unterschiedlichste Tanzformen, Stile, Praktiken und Traditionen, die in Deutschland unterrichtet, praktiziert und performt werden und nicht aus dieser europäisch-amerikanischen Entwicklungslinie hervorgehen und durchaus als fremd, ‚exotisch’, etc. wahrgenommen werden. Sich bewegende Körper und als fremd wahrgenommene Bewegungen, Rhythmen, körperliche Codes können wirkungsvoll ‚Fremdheit’ performen [7]. Die Bewegungssprachen dieser Tänze sind als ‚anders’ markiert und nicht universell.

Wie also kann es sein, dass die Vielfalt von Tänzen, Tanzpraktiken, Tanzsprachen und Tanztraditionen, die uns im Alltag begegnen können (von Ausdruckstanz über Flamenco bis hin zu Zouk), so selten als Widerspruch gegen den Mythos des Tanzes im Singular und als universelle Kunstform und gemeinsame Sprache wahrgenommen werden?

Ist ein Grund dafür vielleicht, dass unterschiedliche Tanzformen und Praktiken hierarchisiert und von einer unsichtbaren (aber deutlich spürbaren) und schwer überschreitbaren Grenze zwischen Kunst und Kultur getrennt werden?

Von welchen Grenzüberschreitungen sprechen wir?

Tanz wird als „selbstreferentiell – auf sich selbst bezogen” und frei von gesellschaftlichen Zwecken gesehen und steht damit im Einklang mit einem eurozentrischen Verständnis von freier und autonomer Kunst [8]. Wenn wir die Idee der Autonomie der Kunst und gegenwartskünstlerische Grenzüberschreitungen aber mit kultureller Grenzüberschreitung gleichsetzen, lassen wir uns auf ein Missverständnis ein, das nicht zwischen kultureller und ästhetischer Differenz unterscheidet:

Ästhetische Erfahrung wird oft als Differenzerfahrung charakterisiert – das Merkmal der Differenz ist dabei aus der Erfahrung mit Kunst abgeleitet. Im postmodernen Verständnis von Kunst spielt das Moment der [‚]Verfremdung[‘] (im weitesten Sinn) eine besondere Rolle. Eine wesentliche Funktion von Kunst besteht demnach darin, traditionelle Wahrnehmungs- und Denkweisen aufzubrechen. [9]

In diesem Sinne steht beim Zeitgenössischen Tanz die meist ästhetische Grenzüberschreitung und die Herausforderung bzw. Erweiterung unseres Verständnisses von Kunst Tanz, Theater, oder der Beziehung zum und die Rolle des Publikums im Zentrum der Betrachtung. Auch die Verwendung der Schlagworte hybrid, heterogen, postkolonial und kritisch beziehen sich eher auf ästhetische und selbstreferentielle Fragen, bei denen es nicht so sehr um die Überschreitung kultureller, politischer und ethnischer Grenzen geht. Damit werden sie aus dem Kontext einer breiteren (kultur-)politischen und postkolonialen Dimension der Kritik herausgelöst.

Während das International Theatre Institute zum Welttanztag implizit alle Tanzformen der Welt adressiert und das Überschreiten von kulturellen, politischen und ethnischen Grenzen anspricht, betont es gleichzeitig Tanz in seiner Autonomie: “To enjoy dance in all its forms for its own sake” [10].

Ästhetische Grenzüberschreitung im Sinne der Verfremdung mit kultureller, oder gar politischer und ethnischer Grenzüberschreitung zu vermischen, ist allerdings vor allem mit Blick auf differenzkritische und dekolonisierende Perspektiven kontraproduktiv.

Zurück zu der Frage: Kann Tanz Grenzen überschreiten?

Mit meinen Ausführungen wollte ich einige Aspekte und Fragen illustrieren, die die Annahme, dass Tanz (im Singular) Grenzen überschreiten kann, komplizieren. Ich halte es auch für problematisch, von Tanz im Singular zu sprechen. Bereits im Jahr 1991 formulierte Deidre Sklar in ihren “Fünf Prämissen für einen kulturell sensiblen Zugang zu Tanz” [Übersetzung SC], dass Bewegung und Tanz kulturelles Wissen sind und mit anderen, über Tanz und Bewegung hinausgehende kulturelle Wissensformen verknüpft sind [11].

Bewegung ist nicht universell - ihre Bedeutung hängt mit kulturellen Kontexten zusammen. Sklar zitiert in ihrem kurzen Artikel unter anderem die Anthropologin Joanne Keali’inohomoku, die bereits in ihrem 1970 erstveröffentlichten Artikel “An Anthropologist Looks at Ballet as a Form of Ethnic Dance” [12] mit einer stringenten anthropologischen Argumentation Ballett als kulturell spezifische und “ethnische” Tanzform einordnet.

Auch wenn wir es nicht auf den ersten Blick mit Tanzen verbinden, finde ich es auch hier notwendig, einen Rahmen für tänzerische Begegnungen auf Augenhöhe zu schaffen. Denn tanzen und sich bewegen (als Verkörperung kulturellen Wissens und kultureller und ästhetischer Werte) kann Verbindung wie auch Ausgrenzung bedeuten.

Dieser Artikel basiert z.T. auf „Vielheitliche Körperlichkeiten, Tanz und Kulturelle Bildung“, der 2021 hier erscheinen wird: María do Mar Castro Varela und Leila Haghighat (Hg.), Double Bind postkolonial. Kritische Perspektiven auf Kunst und Kulturelle Bildung, Bielefeld: transcript.

Fußnoten

[1] https://www.international-dance-day.org/internationaldanceday.html vom 12.5.2020

[2] https://www.international-dance-day.org/goals.html vom 12.5.2020

[3] Dahms, Sybille (2001): „Ballett“, in: Dahms, Sybille (Hg.): Tanz, Kassel: MGG Prisma Bärenreiter, S. 91-122, hier 119-121.

[4] Chatterjee, Sandra (2018). „Kulturelle Gleichzeitigkeit-Zeitgenössischer Tanz aus Post-migrantischer Perspektive“, in: Hill, Marc und Erol Yildiz (Hg.): Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen, Bielefeld: transcript Verlag, S. 199-206. Erstveröffent-licht 2017 in corpusweb.net. Online at: http://www.corpusweb.net/kulturelle-gleichzeitigkeit.html (3.3.17)

[5] Traub, Susanne (2001): „Zeitgenössischer Tanz“, in: Dahms, Sybille (Hg.): Tanz, Kassel: MGG Prisma Bärenreiter, S. 181-188, hier 181. Vgl. auch Chatterjee, Sandra (2018)

[6] Ausnahmen sind z.B. Klein, Gabriele (2015): „Zeitgenössische Choreographie“, in Gab-riele Klein (Hrsg): Der Choreographische Baukasten: Das Buch, Bielefeld: transcript, S. 17-49 und Noeth, Sandra (2016): „Zeitgenössischer Tanz/Contemporary Dance/Danse Con-temporaine“, in Hartmann, Annette/Woitas, Monika (Hg.): Das große Tanzlexikon. Perso-nen – Werke – Tanzkulturen – Epochen, Lilienthal: Laaber Verlag, S. 689-692. Vgl. auch Chatterjee, Sandra (2018)

[7] Vgl. Cramer, Franz Anton und Klemenz, Constanze (2004): „Einmischung in auswärtige Angelegenheiten: Tanz als migratorische Praxis“, in: Theater der Zeit 2/2004, S. 15- 18, hier S. 17.

[8] Fleischle-Braun, Claudia (2013/2012): „Tanz und Kulturelle Bildung“, in: Kulturelle Bil-dung Online: https://www.kubi-online.de/artikel/tanz-kulturelle-bildung vom 26.09.2018. https://doi.org/10.25529/92552.238. Dieser Text wurde erstmals im Handbuch Kulturelle Bildung (Hrsg. Bockhorst/ Reinwand/ Zacharias, 2012, München: kopaed) veröffentlicht.

Fuchs, Max (2013/2012): „Kunstfreiheit und Kunstautonomie – Facetten einer komplexen Leitformel“, in: Kulturelle Bildung Online: https://www.kubi-online.de/artikel/kunstfreiheit-kunstautonomie-facetten-einer-komplexen-leitformel vom 29.05.2019.

[9] Brandstätter, Ursula (2013 / 2012): „Ästhetische Erfahrung“, in: Kulturelle Bildung Onli-ne: https://www.kubi-online.de/artikel/aesthetische-erfahrung (letzter Zugriff am 04.06.2019). Dieser Text wurde erstmals im Handbuch Kulturelle Bildung (Hg. Bock-horst/Reinwand/Zacharias (2012) München: kopaed) veröffentlicht.

[10] https://www.international-dance-day.org/goals.html vom 03.11.2020

[11] Sklar, Deidre. 2001. „Five Premises for a Culturally Sensitive Approach to Dance. “ In Dils, Anne und Albright, Ann Cooper (Hg.) Moving History/Dancing Cultures: A Dance History Reader. Middletown, Conn.: Wesleyan University Press: 30-32.

[12] Keali'inohomoku, Joanne (2001): „An Anthropologist looks at Ballet as a Form of Eth-nic Dance“, in (Dils, A. and A. C. Albright (Hg.): Moving History/Dancing Cultures: A Dance History Reader, Middletown, Conn.: Wesleyan University Press, 33-42.

  • kulturelle Vielfalt
  • partizipativ