„Der Gedanke ist, das Theater zu den Menschen zu bringen“

12.02.2018

Mann und Frau auf Bühne bei Theateraufführung
Alle Sinne werden angesprochen. | Foto: Demenzionen

Die Theaterpädagogin Jessica Höhn entwickelt Theaterstücke für Menschen mit Demenz. Ihr Projekt „Demenzionen“ bringt diese Inszenierungen in Pflegeeinrichtungen – Mitspielen ist ausdrücklich erwünscht.

Von: Elisabeth Gregull

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Theaterstücke speziell für Menschen mit Demenz zu entwickeln?

Ich spiele seit 2008 Theater mit Menschen mit Demenz, als wöchentliches Angebot in der Tagespflege oder in Pflegeeinrichtungen. Es wurde einmal ein Stück aufgeführt, in dem der Schauspieler „Demenz“ als Thema auf die Bühne brachte. Die Pflegekräfte fanden diesen künstlerischen Ansatz spannend. Einer Dame im Publikum sah man jedoch an, dass sie sich total unwohl fühlte. Sie konnte dem, was auf der Bühne passiert, nicht folgen. Das war ein Schlüsselerlebnis. Ich fragte mich: Wie muss ein Theaterstück konzipiert sein, damit auch sie Unterhaltung und Freude wie alle anderen im Publikum erlebt?

Wie haben Sie die Stücke entwickelt?

Für das Pilotprojekt von „Demenzionen“ konnte ich zwei TheaterpädagogInnen begeistern. Die Proben fanden in einer SeniorInneneinrichtung statt, um direkt mit den Menschen zu arbeiten. Wir haben viel ausprobiert. Dabei wurde klar: Wir können nicht nur für die Leute spielen, sondern wir müssen ihnen auch Möglichkeiten geben, mitzuspielen. Gleichzeitig habe ich Interviews mit Menschen dieser Generation geführt, um zu erfahren, welche Themen sie interessieren. Wir sind schnell auf die 1950er Jahre gekommen, die positive Aufbruchsstimmung, die Urlaubsreisen, die Musik- und Schlagerzeit. Daran haben wir uns mit dem Theaterstück, den Figuren und Requisiten orientiert.

Sie haben ein Laienensemble ins Leben gerufen. Wie kam es dazu?

Anfang 2015 erhielt ich eine Anfrage vom Katholischen Bildungswerk Bonn, ob ich das Konzept von „Demenzionen“ auch mit Bonner BürgerInnen umsetzen könnte. Über einen Presseaufruf fand ich drei Frauen und drei Männer, die teilnehmen wollten. Auch hier orientierten wir uns wieder an den 1950er Jahren. Wir arbeiteten dieses Mal konkret zum Thema „Zuhause“. Bei Menschen mit Demenz erlebe ich es oft, dass sie auf der Suche nach „Zuhause“ sind. Mir ging es um dieses Gefühl – wie war das „Gefühl von Zuhause“? So entstand das Stück „Zuhause ist es doch am schönsten“.

Sind auch Menschen mit Demenz im Ensemble von „Demenzionen“?

Nein, „Demenzionen“ richtet sich an Menschen, die in Pflegeeinrichtungen leben. Wenn Menschen mit Demenz dort wohnen, ist die Krankheit so weit fortgeschritten, dass sie nicht mehr alleine leben können. Der Gedanke ist, das Theater zu den Menschen zu bringen. Denn Menschen mit Demenz kommen nicht einfach so zu einer Kulturveranstaltung. Wenn eine Fahrt ins Theater ermöglicht wird, dann können meist nur wenige Demenzkranke daran teilnehmen. Deswegen reisen wir in die Einrichtungen. 2016 gingen wir noch einen Schritt weiter und entwickelten Szenen, die man sogar auf den Zimmern spielen kann – für Menschen, die bettlägerig sind. Sie können sich kaum noch bewegen oder sprechen, aber an den Augen und der Mimik sieht man, dass wir sie mit unserem Theaterspiel erreichen.

Sie sagen, weil Menschen mit Demenz in der Gegenwart leben, hätten sie ein besonderes Talent für Theater. Wie zeigt sich das?

Menschen mit Demenz wollen mitmachen, sie sind aufmerksame ZuschauerInnen. Die Handlungen der SchauspielerInnen werden mit Vorliebe kommentiert. Zum Beispiel in einer solchen Szene: Der Vater tritt herein und sagt „Hallo, ich bin wieder zuhause!“, dann kommt aus dem Publikum: „Schön, dass Du wieder da bist!“ Ein anderes Mal stand ein Mann auf, ging zu einer Schauspielerin, die gerade ein Hemd bügelte. Er nahm sich das Bügeleisen, bügelte ein bisschen und setzte sich dann wieder hin. Eine wunderbare Aktion!

Was unterscheidet Ihre Theateraufführungen von anderen Stücken?

Es gibt eine ausdrückliche Einladung zum Mitmachen: über das Singen, über Bewegung oder über spielerische Handlungen. Bei einer Szene rasiert sich der Vater, er geht mit einem Handspiegel ins Publikum und bittet jemanden, den Spiegel zu halten, damit er sich rasieren kann. Das ist ganz niedrigschwellig, man kann nichts falsch machen. Alle Sinne werden angesprochen - man kann etwas riechen, schmecken oder fühlen. Die ZuschauerInnen naschen mit den DarstellerInnen vom Weihnachtsteller oder riechen an Kräutern. Das Stück dauert maximal fünfzig Minuten, da die Konzentrationsspanne des Publikums nicht groß ist. Die Sätze der SchauspielerInnen sind kurz, es gibt keine Subtexte oder zwischenmenschliche Unklarheiten. Die Geschichte wird linear erzählt, um die Botschaft leichter nachvollziehbar zu machen.

Was ist Ihnen in all den Jahren besonders in Erinnerung geblieben?

Wenn die ZuschauerInnen in den Raum kommen, sieht man zuerst ihre Gebrechlichkeit und das Alter. Ist aber die Theateraufführung vorbei, dann vibriert der Raum, man sieht strahlende Gesichter. Das ist immer wieder faszinierend. Oft gibt es auch nach der Aufführung noch Gespräche, und wir haben schon sehr persönliche Geschichten erfahren.

Wie wird Ihr Konzept von KollegInnen aus der Theaterszene aufgenommen?

Wenn TheaterkollegInnen an den Inklusionsgedanken glauben, dann erfährt das Projekt große Anerkennung und Begeisterung. Bei KollegInnen, die die Theaterkunst sehr hochhalten, kommt die Frage: Ist das noch Theater oder eher ein therapeutisches Angebot? Wer es nicht gesehen hat, kann es sich kaum vorstellen. Hat man ein solches Theaterstück jedoch einmal erlebt, dann ist Akzeptanz viel größer. Das gilt übrigens auch für die SeniorInneneinrichtungen selbst, die manchmal ebenso skeptisch sind.

Brauchen TheaterpädagogInnen eine spezielle Ausbildung für solche Angebote? Wie geben Sie Ihre Erfahrungen weiter?

Man muss ein Bewusstsein für inklusive Angebote entwickeln und etwas über die Zielgruppe der SeniorInnen und der Menschen mit Demenz wissen. Klassische Übungen funktionieren selten, man sollte Mut haben und Neues ausprobieren wollen. Ich gebe Workshops zu diesem Thema in Ludwigsburg und Mainz. Außerdem bin ich Modulbeauftragte im Masterstudiengang „Kulturelle Bildung und Teilhabe im Alter“ an der Fachhochschule Münster, der aus der einjährigen Weiterbildung „Kulturgeragogik“ entstanden ist. Er soll zum Wintersemester 2018/19 starten. An der Hochschule Osnabrück arbeite ich im Projekt „TiP.de – Theater in der Pflege von Menschen mit Demenz“. Dort wird die Wirkung von Theaterspielen auf die Lebensqualität von Menschen mit Demenz untersucht. Die Zusammenarbeit in einem Team aus Pflege und Theaterpädagogik ist sehr spannend und eröffnet beiden Seiten neue Perspektiven.

Werden solche Projekte ausreichend gefördert?

Finanziell ist es immer schwierig. Es gibt in Nordrhein-Westfalen den Förderfonds „Kultur und Alter“, der uns bei der Entwicklung der Theaterstücke unterstützt hat – ebenso wie der Fonds Soziokultur. Ansonsten finanzieren wir uns über die Auftritte. Aber auch da kommt es immer auf die Einrichtungen an und deren Budget. Wir haben auch bei Freien Theatern angeklopft, aber es dauert sehr lange, bis man ein offenes Ohr findet. Ich würde mir wünschen, dass sich gerade die freie Szene dafür öffnet.

  • generationsübergreifend
  • kulturelle Bildung
  • kulturelle Teilhabe
  • partizipativ
  • kulturelle Vielfalt