So spricht inklusives Theater

22.05.2018

Theateraufführung, Schriftzeilen werden auf Schauspieler projiziert
Szene aus „Club der Dickköpfe und Besserwisser“ von Klub Kirschrot | Foto: Andreas Hartmann

Im Rahmen des Projekts „Inklusives Theater“ erarbeitet die Universität Hildesheim zusammen mit Theatern und KünstlerInnen inklusive Theaterstücke, die sich an Hörende und Gehörlose richten. Übertitelungen spielen dabei eine zentrale Rolle – sowohl bei der Konzeption als auch der späteren Inszenierung.

Von: Nathalie Mälzer

Juli 1928. In großen Lettern erscheint das Datum auf den Wänden eines angedeuteten Schwimmbads. Ornamente wabern wellenartig über die Kulissen, comichafte Projektionen erinnern an eine Cocktailparty mit Orchester. Charleston-Musik erklingt, und im Lichtkegel eines Verfolgers tritt, in ein Badetuch gehüllt, eine Schauspielerin auf die Bühne.

Als links neben ihr die Zeichnung einer männlichen Figur erscheint, deutet sie darauf und ruft: „Das ist mein Bruder!“ Allerdings nicht laut, sondern per Übertitel, der rechts neben ihr eingeblendet wird. So entspinnt sich zwischen den Videoprojektionen und der leiblich anwesenden Schauspielerin ein intermedialer Dialog, der an die Zwischentitel von Stummfilmen erinnert.

Bühnenstücke für ein heterogenes Publikum

Die Schauspielerin spricht auch in den anderen Szenen dieses Theaterstücks nie in Lautsprache, stattdessen gebärdet sie oder verwendet Gesten. Sie gehört zu einem diversen Ensemble aus hörenden und gehörlosen SchauspielerInnen, die unter der Regie von Wera Mahne Evan Placeys „Mädchen wie die“ am Jungen Schauspiel Hannover aufführen.

Eine Premiere in mehrfacher Hinsicht. Denn das Stück für Jugendliche wurde mithilfe von Gebärdensprache und Lautsprache sowie den Projektionen von Übertiteln und Bildern des Videokünstlers Declan Hurley in Kooperation mit der Universität Hildesheim inklusiv inszeniert. Somit richtet sich das ursprünglich von einem Hörenden für Hörende geschriebene Bühnenstück nun an Hörende, Schwerhörige und Gehörlose gleichermaßen.

Im Unterschied zu barrierefreien Aufführungen, die Inszenierungen im Nachhinein für ein Publikum mit Sinneseinschränkungen zugänglich machen – etwa durch das Angebot einer Audiodeskription für Blinde, einer Gebärdensprachverdolmetschung oder einer Übertitelung für Hörgeschädigte – wurde hier schon bei der Konzeption der Inszenierung berücksichtigt, dass ein heterogenes Zielpublikum erreicht werden soll.

Übertitelung als Teil des Bühnenbilds

Die Idee, Theaterstücke quasi dreisprachig zu inszenieren und damit Hörenden, Gehörlosen und Schwerhörigen oder Spätertaubten gleichermaßen Zugang zu bieten, ist nicht ganz neu. Sie entstand 2015 in einem Seminar des Masterstudiengangs Medientext und Medienübersetzung an der Universität Hildesheim. Aus der anfänglichen Absicht, ein Stück mit Theaterübertiteln für Hörgeschädigte barrierefrei zu gestalten, entwickelte sich allmählich ein inklusiver Ansatz. In Kooperation mit dem Theaterkollektiv Klub Kirschrot und im Folgejahr mit der Gruppe BwieZwack entstanden am Theaterhaus Hildesheim die Kindertheaterstücke „Club der Dickköpfe und Besserwisser“ und „von außen zu nah“, die die Übertitelung ins Bühnenbild integrierten.

Damit schöpften sie das ästhetische Potential von Schrift weitestgehend aus und verwendeten zusätzlich zur Deutschen Lautsprache auch die Deutsche Gebärdensprache. Die Ensembles bestanden – im Unterschied zur Inszenierung von „Mädchen wie die“ – jedoch nur aus Hörenden. Auch galt es noch nicht, einen bereits bestehenden Dramentext dreisprachig zu inszenieren, da zum Zeitpunkt der Zusammenarbeit von ÜbertitlerInnen und SchauspielerInnen die Stücke erst entwickelt wurden.

Aber auch in diesen ersten beiden Stücken wurden Deutsche Lautsprache, Deutsche Schriftsprache und Deutsche Gebärdensprache gleichberechtigt verwendet: mal komplementär zueinander, mal in gegenseitiger Übersetzung. Bei diesem inklusiven Konzept kann die Übertitelung Dialoge wiedergeben, die in Gebärdensprache oder in Lautsprache stattfinden. Umgekehrt bildet sie den Ausgangspunkt einer Übersetzung in Gebärden- oder Lautsprache. Sie kann auch zur eigenständigen Figur oder zum Requisit werden.

Von Buchstaben zu Gefühlen und Orten

Voraussetzung dafür ist, dass man die Übertitel aus der LED-Leiste über oder neben der Bühne ins Geschehen holt und auf die Kulissen oder die Körper der SchauspielerInnen projiziert und zum theatralen Zeichen werden lässt. Werden die Übertitel Teil der Inszenierung eröffnen sich auch vielfältige ästhetische Gestaltungsmöglichkeiten. Der Projektionsort kann sich ebenso rasch verändern wie das Layout der Schrifteinblendungen: Über Größe, Dicke, Type, Farbe und Rahmung der Buchstaben können stimmliche Merkmale oder Gefühle transportiert, aber auch konkrete Orte und Epochen evoziert werden, wie in der eingangs beschriebenen Szene.

Neben ihrem inkludierenden Potenzial, sowohl auf der Bühne als auch im Zuschauerraum, birgt die hier skizzierte Inszenierungsform auch Herausforderungen, die mit veränderten Produktionsprozessen einhergehen. Will man die Sprach- und Übersetzungsexpertise von ÜbertitlerInnen bei der Erarbeitung einer inklusiven Inszenierung nutzen, muss nicht nur der Dramentext aufgebrochen werden, sondern auch der übliche Probenprozess. Es liegt auf der Hand, dass die gelungene Umsetzung eines solchen Konzepts eine engere und zeitintensivere Zusammenarbeit erfordert als klassische Theaterübertitelungen.

ÜbertitelerInnen nehmen an Proben teil

ÜbertitelerInnen und Regie bzw. Theaterkollektive sollen ihre jeweiligen Kompetenzen einfließen lassen, ohne sich in ihrer Arbeit gegenseitig zu behindern. Bei der Umsetzung des hier beschriebenen Ansatzes kommen Regie und ÜbertitelerInnen schon vor Probenbeginn zusammen. Da es zu diesem Zeitpunkt noch keinen Mitschnitt einer Inszenierung geben kann, sondern diese erst in Ko-Produktion entsteht, ist es unumgänglich, die ÜbertitlerInnen regelmäßig an den Proben zu beteiligen, damit die Übertitelung auf das Bühnenbild, den Einsatz von Laut- und Gebärdensprache und nicht zuletzt auf die Bedarfe des heterogenen Publikums abgestimmt werden kann. Eine Erarbeitung der Übertitelung nur auf Grundlage der Strichfassung und des Besuchs weniger Abschlussproben wäre hingegen zum Scheitern verurteilt.

Das Hildesheimer Projekt „Inklusives Theater“ wird sich auch in den kommenden Jahren weiterentwickeln und dabei insbesondere folgenden Fragen nachgehen: Wie verändern sich die Produktionsprozesse bei einem diversen Ensemble? Was gilt es für eine geglückte Zusammenarbeit zwischen ÜbertitlerInnen und Regie zu beachten? Wie geeignet ist das Konzept für die Inszenierung klassischer Dramen? Wie wird diese Theaterform von einem erwachsenen Publikum aufgenommen?

Einige Antworten werden hoffentlich die künftigen Projekte und daran anknüpfenden empirischen Studien bringen, etwa die geplante Inszenierung von Georg Büchners Woyzeck unter der Regie von Lina Hölscher am Theaterhaus Hildesheim oder die Zusammenarbeit mit weiteren staatlichen Bühnen.

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